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Die Multiple Persönlichkeitsstörung im Zerr-Spiegel des Feuilletons
von Ulla Fröhling (MPS-Infobrief 9/97, update 5/2002)


Seit über hundert Jahren gibt es sorgfältige medizinische und psychologische Fallschilderungen und Studien zum Phänomen der Multiplen Persönlichkeit. Der Begriff selbst wurde vermutlich zum ersten Mal im Jahre 1888 in einer wissenschaftlichen Studie niedergeschrieben (Bourru, H. und Burot, P.: Les variations de la personnalité. Paris).

Doch schon aus früheren Jahrhunderten liegen Berichte vor über Menschen mit deutlich unterschiedlichen Persönlichkeitsanteilen, die nichts voneinander zu wissen scheinen. Auch manche der kirchlichen Schilderungen von Besessenheitszuständen lassen sich aus heutiger Sicht so deuten.

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts befaßten sich Breuer, Freud und Pierre Janet parallel mit diesem Phänomen. Während Freud das Konzept der Verdrängung entwickelte, ging die Forschung Janets in andere Richtung. Er vermutete, daß manche traumatischen Erlebnisse abgespalten, `dissoziiert' werden und dadurch gar nicht ins Bewußtsein kommen. Heute ist der Begriff der `Verdrängung' aus dem Zentrum des Interesses verschwunden, die Psychologie und besonders die Psychotraumatologie wendet sich wieder dem Konzept der `Dissoziation' zu und intensiviert die Forschung in diesem Bereich.

Seit 1980 wird die Multiple Persönlichkeitsstörung im DSM, dem weltweit gültigen Verzeichnis psychischer Störungen, geführt ( American Psychiatric Association, Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen. Dt. Beltz Verlag, Weinheim 1989). Auch das ICD-10, die Klassifikation psychischer Störungen, mit der die WHO arbeitet, listet die Störung auf. In beiden Verzeichnissen wird sie unter `Dissoziative Störungen' aufgeführt, wo auch Amnesien und Fugue-Zustände (0) gelistet sind.

Um die Verwirrungen und Unklarheiten, die sich um den Begriff `Multiple Persönlichkeit' rankten, zu beenden, wurde die Störung 1994 in `Dissoziative Identitätsstörung' umbenannt. Es gibt klare Methoden, um sie zu diagnostizieren, die inzwischen auch in Deutschland validiert sind. Und es gibt erfolgreiche Therapiewege, die die Störung oder das Leben mit dieser Störung nachhaltig bessern.

Im Folgenden geht es den Umgang der deutschen Presse mit dieser Diagnose.

Die Berichterstattung der seriösen deutschen Presse zur Dissoziativen Identitätsstörung (1), früher Multiple Persönlichkeitsstörung genannt (DIS/MPS), war mehr als fünf Jahre von Unkenntnis, Abwehr oder Zynismus geprägt. 1997 erreichte sie einen journalistischen Tiefstand. Die negativen Auswirkungen auf den Informationsstand von Gutachtern, Richtern, Anwälten etc. sind heute noch spürbar.
Einige erhellende Bemerkungen zu Hintergründen und Ursachen sind nötig.

Mit großer Heftigkeit wurde das seit über hundert Jahren bekannte und von Medizinern beschriebene Phänomen der Dissoziation gerade im Sommer 1997 attackiert - vom Feuilleton, nicht von wissenschaftlichen Fachressorts. Fachleute (Kliniken, ISSD-Vorstand, ÄrztInnen, Psychiater) protestierten in Leserbriefen. Keiner davon wurde - soweit ich weiß - abgedruckt.

Die einflussreichsten Veröffentlichungen, in zeitlicher Reihenfolge:

  1. `Evas viele Gesichter. Multiple Persönlichkeitsstörung: Neues über ihre Anfänge' (Mark Stingelin, 21.5.97. FAZ);
  2. `Die neueste Stimmung im Westen: Die vollends aufgeklärte Welt strahlt im Zeichen einer neuen Hysterie' (Jörg Lau, 13.6.97, DIE ZEIT);
  3. `Ich sind zwei andere. Der Fall Sybil: Ist die multiple Persönlichkeit eine Erfindung?' (Peter Michalzik, 10.7.97, SÜDDEUTSCHE ZEITUNG);
  4. `Trau keinem - nicht einmal Dir selbst' (Michael Simm, 26.7.97 FRANKFURTER RUNDSCHAU);
  5. `Floras Erzählungen' (26.10.98 DER SPIEGEL).

Das Feuilleton war offenbar übereinstimmend zu dem Ergebnis gekommen, daß es weder MPS/DIS noch verzögert aufgetauchte Erinnerungen gibt. Wie war es zu diesem Ergebnis gekommen? Durch fundierte wissenschaftliche Forschung? Oder wenigstens das Studium derselben? Nein, zwei Ereignisse haben genügt, jedes für sich genommen recht belanglos:

  1. Richard Ofshe war im Mai `97 in der Evangelischen Akademie in Tutzing.
  2. Herbert Spiegel gab dem NEW YORK REVIEW OF BOOKS ein Interview. (2)

Wer nun sind diese Herren?

Zu 1: Richard Ofshe, Ko-Autor von `Die mißbrauchte Erinnerung' (3), ist Soziologe und Berater der FMSF (False Memory Sydrom Foundation). Zu dieser Organisation, die zunehmend auch in Europa - zuerst in England und den Niederlanden, jetzt aber auch in Deutschland - Einfluß gewinnt, später noch einige Hinweise. Bei vielen Gerichtsverfahren um sexuelle Gewalt tritt Ofshe als Experte für traumatische Erinnerungen auf - ohne es zu sein. Seine Thesen (vergröbert zusammengefaßt):

  1. Therapeuten reden ihren Klientinnen Mißbrauch ein,
  2. verzögert aufgetauchte Erinnerungen gibt es nicht, denn
  3. wer etwas Schlimmes erlebt hat, erinnert sich immer daran.

Ein irritierender Nebenaspekt ist, daß Richard Ofshe (auch in der deutschen Ausgabe seines Buches) damit Reklame macht, daß er Pulitzer-Preisträger sei, was gar nicht stimmt. So eine Aussage zweifelt man nicht leicht an. Recherchen eines Journalisten (4) ergaben aber, daß Ofshe zwar früher in einem Institut arbeitete, von dem eine Abteilung einen Pulitzer-Preis erhielt. Aber nicht er. Derartige Strategien wahrzunehmen, kann erhellend sein.

Zu 2: Dr. Herbert Spiegel hat `Sybil', die Hauptperson des gleichnamigen Klassikers (5), in den 60er Jahren mehrfach hypnotisiert und für Vorführungen vor Studenten benutzt, weil sie besonders leicht zu hypnotisieren war. Zitat: `I was doing research with Sybil, using her as a demonstration case at our classes in hypnosis at Columbia University's College of Physicians and Surgeons... She was very hypnotizable.' (6)

In den späten 90ern nun erhob Spiegel plötzlich seine Stimme und äußerte im Interview mit dem Literaturwissenschaftler Mikkel Borch-Jacobsen, daß Sybil seines Erachtens keine Multiple Persönlichkeit gewesen sei. (Sybil ist ein Pseudonym, die Betroffene selbst hat sich nie geoutet.) Auffallend ist, daß das Interview mit Spiegel erst stattfand, nachdem sowohl die Autorin des Buches, Flora Rheta Schreiber, als auch `Sybils' Therapeutin, die angesehene Dr. Cornelia B. Wilbur, verstorben waren. (7) Im Zeit-Artikel (8) heißt es als Begründung, Borch-Jacobsen sei es gelungen, `Dr. Herbert Spiegel aufzustöbern' - als hätte er ein paar Jahrzehnte nach ihm suchen müssen. Das ist irreführend. Herbert Spiegel ist ein bekannter Psychiater, mit dem man jederzeit hätte sprechen können. Spiegel selbst sagt auf die Frage, warum er sich erst jetzt äußere, `man habe ihn vorher nicht gefragt'. Soll man diese Äußerung kommentieren?

Bei Recherchen zu Herbert Spiegel befragte ich Dr. John Curtis, ISSD Kanada (8a), der diesen persönlich kennt. Curtis berichtete mir, daß er und George Fraser, Herausgeber des Buches `The Dilemma of Ritual Abuse: Cautions and Guides for Therapists', 1998 bei einem Abendessen mit Herbert Spiegel zu ihrem großen Erstaunen feststellen mußten, daß Spiegel das Konzept von Dissoziation und Multiplizität überhaupt nicht begriffen habe. Lapidar fügte Curtis als Kommentar hinzu: `The human mind never ceases to amaze me - der menschliche Geist bleibt eine stete Quelle der Überraschung für mich.'

Dieses -Spiegel- also ist der Mann, der das Bild von DIS erschüttern darf. Der alte Mann, könnte man hinzufügen, denn eines der ersten Bücher Spiegels erschien 1947 (9). Der Mann, dem das deutsche Feuilleton glaubt. Diese -unbewiesene- Behauptung eines einzelnen Mannes über eine Einzelfallstudie wird nun benutzt, um die Existenz von MPS/DIS grundsätzlich zu bestreiten. Ein vollkommen unzulässiger Schluß.

Dieselbe Strategie benutzt DER SPIEGEL auch in seinem jüngsten Artikel („Floras Erzählungen' 26.10.98) zum Thema. Dieses Mal ist es nicht Herbert Spiegel, sondern der bei uns unbekannte `Psychologe Robert Rieber', dem nach eigenen Angaben beim Aufräumen zwei alte Tonbandkassetten in die Hände gefallen seien, die er 1972 von Flora Schreiber, der Autorin von Sybil, erhalten habe. Angeblich gehe aus diesen Kassetten hervor, daß `der berühmteste Fall eines Patienten mit multipler Persönlichkeitsstörung eine betrügerische Konstruktion ist'.

Es fällt auf, daß das Ziel des Angriffs wiederum `Sybil' ist, obwohl es eine Reihe anderer Biographien, Autobiographien oder Fallberichte von Frauen und Männern mit DIS/MPS gibt. Da ist z.B. Truddi Chase, Autorin von `Aufschrei', einem autobiographischen Bericht über Folter, sexuelle Gewalt und Dissoziation. Truddi Chase ist kein Pseudonym, mit ihr könnte man sprechen. Auch mit Chris Sizemore könnte man sprechen: Ihre Therapiegeschichte wird in `Die drei Gesichter der Eva' erzählt. Das Buch, von ihren Therapeuten verfaßt, erschien in den 50er Jahren, also lange vor `Sybil'. In den 70er Jahren schrieb Chris Sizemore ihre Geschichte aus eigener Sicht noch einmal: `I was Eve'. Anfang November 1998 war sie als Referentin auf dem ISSD-Kongress in Seattle, eine Frau zwischen 60 und 70, wie Teilnehmer des Kongresses berichteten. Sicher wäre es sehr interessant, mit ihr zu sprechen. Statt die Lebensgeschichte einer anonym gebliebenen Frau, ihre verstorbene Therapeutin und eine verstorbene Buchautorin zu diffamieren.

Wie nun ist es gelungen, die deutsche Presse zu unkritischen Nacherzählern der Thesen Ofshes bzw. der `False Memory Syndrom Foundation' (FMSF) zu machen? Das läßt sich gut an der amerikanischen Entwicklung nachvollziehen. Dort allerdings hinterfragt man den Einfluss der FMSF inzwischen kritisch.

So untersuchte die Soziologin Katherine Beckett (Universität Michigan) die Berichterstattung über sexuellen Mißbrauch in führenden US-Magazinen. 1991 lag der Schwerpunkt zu 80 Prozent auf den Berichten der Überlebenden sexueller Gewalt, der Wahrheitsgehalt wiederaufgetauchter traumatischer Erinnerungen wurde im Prinzip akzeptiert. 1994 hatte sich der Schwerpunkt verlagert, und es ging zu über 80 Prozent um falsche Anschuldigungen sexuellen Mißbrauchs und angeblich `falsche Erinnerungen'. Hauptursache des Umschwungs sieht Beckett im Wirken der FMSF. Von 1992-1994 hatten 300 Artikel sogenannte `falsche Erinnerungen' zum Thema.

Auch `A U-Turn on Memory Lane' (Kehrtwende auf der Straße der Erinnerung) des Journalisten Mike Stanton legt die Strategie der FMSF offen, die Medien so zu manipulieren, daß das Augenmerk auf die `Zerstörung des Lebensglücks unschuldiger Eltern' (10) durch 'verantwortungslose Therapeuten' gelenkt wird, 'die Klientinnen falsche Erinnerungen einreden' (11), so DER SPIEGEL. Mike Stanton erhielt 1996 den Medienpreis der ISSD für seine dreiteilige, sorgfältig recherchierte Serie über den Wissenschaftler Prof. Ross E. Cheit von Brown University und dessen nach Jahrzehnten wiederaufgetauchte Erinnerungen an eigenen Mißbrauch.
(Cheit selbst hat eine Homepage im Internet mit 80 sorgfältig dokumentierten juristischen Fallschilderungen wiederaufgetauchter Erinnerungen. Internet-Adresse:
http://www.brown.edu/Departments/Taubman_Center/Recovmem/Archive.html

Zur Geschichte: Die FMSF wurde 1992 von Pamela und Peter Freyd gegründet, nachdem ihre erwachsene Tochter, eine Psychologin, ihre Eltern privat von wiedergefundenen Erinnerungen an innerfamiliären sexuellen Mißbrauch informiert hatte. Nochmals: die Tochter zeigte die Eltern nicht an, sie ging nicht an die Öffentlichkeit. Die Eltern aber beschlossen, sich zu outen. Und zwar mit einer derartigen Wucht, daß ein anderer Autor die Freyd-Familie als `einflussreichste dysfunktionale Familie Amerikas' (12) bezeichnete. In wenigen Jahren verfügte die FMSF über ein Jahresbudget von $750.000 und 3.000 Mitglieder, die meisten von ihnen Eltern oder sonstige Verwandte, die glauben/behaupten, zu Unrecht des sexuellen Mißbrauchs beschuldigt zu werden. (13)

Einige statistische Angaben der FMSF über sich selbst: 11% der Mitglieder werden von mehr als einem Kind beschuldigt. Eine Untergruppe Eltern unterzog sich dem Lügendetektortest. 14% davon bestanden ihn nicht, weitere 11% weigern sich, das Ergebnis bekanntzugeben. (14) Niemand hat je geprüft, welcher Anteil der FMSF zu Recht sexueller Gewalt angeklagt wird.

Auch das Expertengremium hat Probleme: Ralph Underwager mußte zurücktreten, als bekannt wurde, daß er im Interview mit einem niederländischen Pädophilenmagazin Pädophilie als `akzeptablen Ausdruck der Liebe Gottes' (15) bezeichnet hatte. Der kürzlich verstorbene Experte und Psychiater Martin Orne arbeitete für den CIA (16). Die Fragwürdigkeit weiterer Experten hat die Journalistin Michelle Landsberg, Kolumnistin des TORONTO STAR, der größten kanadischen Tageszeitung, in sorgfältigen Recherchen festgestellt. Vor einigen Jahren hat sie in ihrer Kolumne auch Elisabeth Loftus -zu Loftus später noch einige Bemerkungen-, ebenfalls im Expertengremium, kritisiert. Daraufhin wurde der TORONTO STAR von einer organisierten Flut aggressiver Leserbriefe überschwemmt.

FMSF ist Partei

FMSF ist also eine Betroffenenorganisation, die sich einen wissenschaftlichen Anstrich gibt. Es ist das gute Recht einer solchen Organisation, eigene Interessen zu vertreten. In ihren Methoden aber schießen sie weit über das Ziel hinaus. Sie bedrohen Therapeuten, überziehen Kliniken mit Prozessen, marschieren vor Praxen auf (bei einer Therapeutin mit rituell misshandelten Klientinnen z.B. demonstrierten sie mit dem Plakat `Sie ist eine Hexe'), brachten David Calof (Therapeut, Herausgeber von `Treating Abuse Today') in einer aggressiven Kampagne dazu, seine Zeitung abzugeben. (17)

Es ist Aufgabe von Journalisten, all dies zu recherchieren. Es ist ihre Aufgabe zu erkennen, daß FMSF nur eine Seite vertritt, die eigene. Es ist Aufgabe von Journalisten, dies zu schreiben. In Deutschland haben sie versagt. Meines Wissens gelang es bisher nur einer einzigen Journalistin, Irene Stratenwerth, einen sorgfältig und umfangreich recherchierten Artikel zur Dissoziativen Identitätsstörung als Folge rituellen Kindesmissbrauchs in einem überregionalen seriösen Blatt zu veröffentlichen und noch Kritisches zur FMSF anzumerken (18).

Die Einseitigkeit der Berichterstattung beeinflußt die Öffentlichkeit. Und damit beeinflußt sie Richter, Gutachter, medizinische Dienste, Krankenkassen.

FMSF hat Erfolg, weil sie sich an den Bedürfnissen der Medien orientiert
Dies sind ihre Strategien:

  1. Erfindung: Das `False Memory Syndrom', das `Falsche-Erinnerungs-Syndrom' gibt es gar nicht. Oder anders gesagt: das gibt es genauso wie das `Zu-Unrecht-Leugnen-Syndom' der Eltern. Es hat keine wissenschaftliche Relevanz. Klingt aber griffig für Journalisten. (Ähnlich: Parental Alienation Syndrom)

  2. Emotionen: Pamela Freyd empfiehlt, das `Verlangen' der Medien nach `menschlichem Drama' offensiv zu befriedigen (weinende Eltern in Talkshows). Mrs. Freyd reagiert weltweit. Wer sie anschreibt, erhält Ratschläge und Kontakt zu `ähnlich betroffenen Eltern in der Nähe. (19)

  3. Trend: Auf der Suche nach `dem neuen Dreh', spürten die Medien Überdruss beim Thema sexuelle Gewalt. Man war es leid, immer zu hören, das wahre Ausmaß sei noch höher als angenommen. FMSF brachte den neuen Trend, die Erleichterung, die Erfüllung geheimer Sehnsüchte: Es ist alles gar nicht wahr. Die Welt ist wieder heil.

  4. Experten: Der große Beraterstab der FMSF blendet und verstellt den Blick darauf, daß nur eine bestimmte Richtung psychologischer Forschung vertreten ist. Es fehlen Traumaforscher-, sowie Psychiater- und TherapeutInnen, die Erfahrung mit Schwertraumatisierten haben.

Die prominentesten Experten sind erwähnter Richard Ofshe und Elizabeth Loftus. Dr. Elizabeth Loftus (20) ist Psychologin, Erinnerungsforscherin, aber nicht im Bereich traumatischer Erinnerungen, die grundsätzlich anderer Qualität sind (21). Ihre Vorträge sind amüsant für die Presse. Und erfolgreich für die FMSF, denn Loftus überträgt die Ergebnisse ihrer Labor-Gedächtnisforschung auf traumatische Erinnerungen von Gewaltopfern, ohne daß sich bei Journalisten Kritik geschweige denn Widerstand regt. (22)

Strategie: Sie referiert ein Experiment, in dem es gelang, das Gedächtnis zu manipulieren. Dies koppelt sie mit Informationen über Mißbrauchsprozesse, in denen wiedergefundene Erinnerungen eine entscheidende Rolle spielen und bringt so Zuhörer dazu, das eine auf das andere zu übertragen. Beliebtestes Beispiel: einer jugendlichen Versuchsgruppe wurde durch Suggestivbefragung eingeredet, sie wären als Kind im Supermarkt verlorengegangen. Bei einigen gelang dies. Daraus schließt Loftus, daß unser Gedächtnis ein labiles Ding ist. Fürwahr, wir wissen es alle. Wir wissen auch, daß ein bestimmter Prozentsatz von uns besonders suggestibel ist. (23) Und wir wissen, daß ein gewisser Teil aller Strafanzeigen falsch ist, ob es sich um Diebstahl, Fälschung oder sexuelle Gewalt handelt. Das war schon immer so. Abgesehen davon ist dieser gern zitierte Versuch wissenschaftlich unsolide: Wie wurde geprüft, ob die Jugendlichen nicht wirklich als Kind im Supermarkt verlorengegangen waren?

Deutscher MPS-Trendwechsel zur Jahreswende 1994/95.

1993/4: positive Geschichte in der SZ(24); zwei große Portraits in Frauenzeitschriften (25); im SPIEGEL ein aufwendig recherchierter Artikel, der das Krankheitsbild ernstnimmt.(26) Kehrtwende Januar 1995 in der ZEIT (27): Der Autor nennt vier Vertreter der MPS-Diagnose, tendiert aber zu Ablehnung aufgrund von obskur bleibenden Experten (28).

März 1995 (29): Der SPIEGEL greift die Psychotherapeutin und Autorin des ersten deutschen Handbuches zum Thema DIS/MPS (30) an, Dipl.-Psych. Michaela Huber, deren Forschungsergebnisse im ersten Artikel zustimmend kommentiert worden waren, und zitiert drei amerikanische Psychiater, die `am Krankheitsbild der Multiplen Persönlichkeit zweifeln'. Zwei davon sind im Expertengremiums der FMSF (31) - was der SPIEGEL verschweigt oder nicht weiß.

Dem Trend folgt PSYCHOLOGIE HEUTE (32). Ein schmerzhaftes Kapitel für mich: PSYCHOLOGIE HEUTE erscheint im Beltz Verlag; dort sollte auch mein Buch über das Leben einer Frau mit MPS/DIS auf dem Hintergrund organisierter Gewalt erscheinen, die ich vier Jahre begleitet hatte. Beltz entschied sich, einen langen Vorabdruck von Ofshes Buch zu bringen, das (locker gesagt) das Gegenteil von meinem Buch (33) behauptet.

`Das Beste, was ein Reporter unter diesen Umständen tun kann, ist, Reporter zu sein', schreibt Mike Stanton am Ende seines Artikels. `Diese Geschichte hat viele Stimmen außer der der FMSF. Alle müssen sie gehört werden.' Ich wünschte, die deutsche Presse würde das begreifen.

Nachtrag:

Januar 2003: Es sieht immerhin so aus, als finge sie an zu verstehen: `Giovanna ist viele' (DIE ZEIT Nr. 13, 23.3.2000) heißt der akzeptierende Artikel von Holde Barbara Ulrich über eine Frau mit einer Dissoziativen Identitätsstörung. Allerdings erscheint der Bericht in der Beilage `Leben', also wieder im Feuilleton.

Den `Backlash' allerdings finden wir im Titelthema des SPIEGEL (36/2000) über Psychotherapie. Die dort abgedruckten Passagen aus dem Buch `Lexikon der Psycho-Irrtümer' von Rolf Degen sprechen für sich:

`Doch aus der Perspektive der empirischen Wissenschaft lässt sich der Zusammenhang zwischen frühen Traumata und ihren späten Folgen nur in Langzeitstudien eindeutig prüfen, bei denen eine größere Gruppe von Menschen vom Säuglingsalter bis zum Erwachsenendasein von den Forschern verfolgt und psychologisch getestet wird. Es gibt mehrere solcher Langzeitstudien, und ihre Ergebnisse versetzen samt und sonders der Traumatheorie einen Todesstoß.'

Auffallend auch hier: Behauptungen werden kaum belegt. Außerdem argumentiert Degen (34) vehement gegen den Begriff der `Verdrängung', der allerdings in der Fachdiskussion von Traumaforschern und –therapeuten kaum noch eine Rolle spielt.

Die wichtigsten Standardwerke zum Thema scheint Degen nicht gelesen zu haben:

  • `Lehrbuch der Psychotraumatologie' von Gottfried Fischer + Peter Riedesser (Hrg.). Ernst Reinhardt Verlag, München/Basel 1999
  • `Die Narben der Gewalt' von Judith Lewis Herman, Kindler, München 1993
  • Diverse Veröffentlichungen von Bessel van der Kolk. Viele davon finden sich im Journal of Traumatic Stress. Van der Kolk ist auch Mitherausgeber von `Trauma and Memory'. Besonders empfehlenswert darin sein Aufsatz Traumatic stress: The effects of overwhelming experience on mind, body and society. Oder auch Zur Psychologie und Psychobiologie von Kindheitstraumata in `Trauma und Adoleszenz' von Annette Streeck-Fischer (Hrg.), Göttingen 1998
  • `Memory, Trauma Treatment and the Law' von Daniel Brown, Alan W. Scheflin, D. Corydon Hammond. Norton, New York 1998 (Analysiert sorgfältig medizinische, psychologische, soziologische, juristische Zusammenhänge in der `Memory'-Debatte. Ohne dieses Buch darf man sich eigentlich gar nicht zum Thema äußern. Allerdings ist es sehr dick: 786 doppelspaltig eng beschriebene Seiten, Großformat, noch nicht übersetzt, also auf Amerikanisch. Kann man das wirklich erwarten - besonders da Untersuchungen ergeben haben, daß deutsche Journalisten im internationalen Vergleich auffallend wenig selbst recherchieren? Zu `selbst recherchieren' gehört offenbar auch `selbständig Bücher lesen'.)

Nachdem es inzwischen gelungen ist, den `Switch', die augenscheinlichste Begleiterscheinung von DIS, den sichtbaren Wechsel von einer Persönlichkeit zur anderen, im PET-Verfahren abzubilden (35), können wir gespannt sein, wann und auf welche Weise DER SPIEGEL dieses spiegelt.

Bis heute, bis zum 04.02.2003, hat er es noch nicht getan. Dafür gab es in den letzten drei Jahren einige Fernsehdokumentarfilme, die dem Bereich hohe Glaubwürdigkeit attestieren: 2000 WDR, `Die Seele brennt', Liz Wieskerstrauch; 2001 ZDF, `Ich bin so viele', Rosvita Krausz,; 2001 WDR, `Höllenleben', Liz Wieskerstrauch). (36) Für ihren Film `Die Seele brennt' erhielt Liz Wieskerstrauch den Film- und Fernsehpreis 2001 des Hartmannbundes.

Vielleicht erreicht aber Ines Possemeyer mit ihrem exzellenten Text „Der Terror in den Köpfen“ (36) in Geo 5/02 endlich eine nachhaltige Wende in der deutschen Berichterstattung zum Thema „Trauma“. Mit einem Report über Traumafolgen, unter denen Überlebende der Anschläge vom 11. September 2001 in New York bis heute leiden, gelingt ihr eine außergewöhnlich umfassende Darstellung des Bereichs „Trauma“. Sie stellt die neuesten Erkenntnisse aus der Gehirnforschung ebenso präzise und klar dar wie aktuelle Therapieformen, unterscheidet akute von Langzeittraumatisierungen und beschreibt die Menschen und ihre Symptome mit ruhiger Empathie.

Danke, Kollegin.


Fußnoten

  1. Eine `Fugue' ist ein Zustand, der von Zeit zu Zeit gern in Medienberichten beschrieben wird: Ein Mensch taucht irgendwo auf und erinnert sich nicht, wie er dorthin gekommen ist und wer er ist. Er hat seine Identität vergessen.

  2. Seit dem Erscheinen des weltweit gültigen `Diagnostischen und Statistischen Handbuchs psychischer Störungen IV' (DSM-IV) von 1994 wird die `Multiple Persönlichkeitsstörung' (MPS) unter dem Begriff `Dissoziative Identitätsstörung' (DIS) gefasst. Eine Information, die die deutsche Presse offenbar noch nicht erreicht hat.

  3. Mikkel Borch-Jacobsen `Sybil - The Making of a Disease: An Interview with Dr. Herbert Spiegel' The New York Review of Books, 24.4.97. S. 60-64 (http://www.nybooks.com/nyrev)

  4. Richard Ofshe, Ethan Watters, `Die mißbrauchte Erinnerung. Von einer Therapie, die Väter zu Tätern macht' dtv 1996

  5. Michael Newton, Book Review of `Making Monsters: False Memories, Psychotherapy, and Sexual Hysteria by R. Ofshe and E. Watters, New York 1994' (Kritik von 1996)

  6. Flora Rheta Schreiber, `Sybil' 1973. Dt. Fischer 1976. Populärwissenschaftliche Biographie einer Frau mit Multipler Persönlichkeitsstörung

  7. Borch-Jacobsen, a.a.O. S. 61

  8. Schreiber etwa 1988, Willbur 1992

  9. Dieser Artikel von Jörg Lau ist besonders polemisch und unseriös. Der Autor nennt seine wahre Quelle (Richard Ofshe) nicht und wirkt kaum vertraut mit Büchern und Aufsätzen, die er zitiert.

  1. a ISSD = International Society for the Study of Dissociation

  1. Ohne damit alte Leute und ihre Erinnerungsfähigkeit beleidigen zu wollen: Spiegel ist Ko-Autor des 1947 erschienenen Buches `War Stress and Neurotic Illness'

  2. SPIEGEL 6/97

  3. Mike Stantons hervorragendem Artikel `A U-Turn on Memory Lane' (Juli-August 1997, Columbia Review of Journalism) entnehme ich einige Gedankengänge. Den ganzen -englischen- Artikel kann man bei mir anfordern. (Rückporto!) U.F. Medienhaus, Friedensallee 14-16, 22765 Hamburg

  4. Most influentially dysfunctional family in America (Stephen Fried, Philadelphia magazine) Schöner Ausdruck, aber in der Kürze kaum adäquat zu übersetzen. Etwa: die ihre Dysfunktionalität auf das Einflussreichste umgesetzt hat.

  5. Berücksichtigt man, daß nach einer anderen Untersuchung jede zehnte amerikanische Familie eine Inzestfamilie ist (Trube-Becker), müßte sich die Mitgliederzahl noch stark erhöhen lassen. Aber da die meisten Opfer sexueller Gewalt lebenslang schweigen, kommen viele Eltern gar nicht erst in die Lage, sich wehren zu müssen.

  6. Diese Statistik habe ich ungeprüft aus dem Artikel von Stanton übernommen.

  7. `an acceptable expression of God's will for love'

  8. Viele andere amerikanische Verhaltens- und Hynotherapeuten allerdings auch. Siehe: John Marks, `The Search for the 'Manchurian Candidate'' New York 1979, 1991.

  9. Der neue Herausgeber wird über die Strategien der FMSF berichten, `da es die bürgerliche Presse nicht tut'.

  10. `Teuflische Perversionen' (Irene Stratenwerth, 30.1.97, DIE WOCHE)

  11. (Pamela & Peter Freyd, 3401 Market Street-suite 130, Philadelphia, PA 19104 USA)

  12. Elisabeth Loftus und Katherine Ketcham, `Die therapierte Erinnerung. Vom Mythos der Verdrängung bei Anklagen wegen sexuellen Mißbrauchs' Ingrid Klein Verlag 1995 (englisches Original: `The Myth of Repressed Memory' 1994)

  13. ... wie wir nun wirklich wissen: Brown, Herman, Hofmann, Huber, van der Hart, van der Kolk, G. Fischer ...

  14. ... auch reingefallen: Michael Sinun `Trau keinem - nicht einmal Dir selbst' (26.7.97, FRANKFURTER RUNDSCHAU .... hätte er bloß seinen Rat befolgt)

  15. Mit Hilfe des Gudjohnnson Suggestibility Scale, der ursprünglich für forensische Zwecke entwickelt wurde, lässt sich Suggestibilität recht zuverlässig messen.

  16. `Ich zerfalle in Stücke' (Maria Biel, SZ-Magazin, Süddeutsche Zeitung, 2.4.93)

  17. `Ich bin viele' (Fröhling, COSMOPOLITAN 11/93), `Die vielen Ichs der Andrea B.' (Mikutta, BRIGITTE 7/94)

  18. `Bürgerkrieg im Innern' SPIEGEL 16/94, S.122-130.

  19. `Wenn Ich ein Plural ist' (Jochen Paulus, ZEIT, 13.1.95, S.33)

  20. `In den USA zweifeln...viele Forscher daran, daß eine wirkliche Krankheit hinter dem steckt, was ein Wissenschaftler die `Epidemie der multiplen Persönlichkeiten' nannte. Die Skeptiker sind sicher....Gedächtnisforscher bezweifeln, daß traumatische Erfahrungen je aus dem Gedächtnis verschwinden.' (kursiv von mir)

  21. `Modischer Wahn', SPIEGEL 12/95, S. 196-7.

  22. Huber, Michaela, `Multiple Persönlichkeiten - Überlebende extremer Gewalt. Ein Handbuch'. Frankfurt 1995

  23. Paul McHugh und David Holmes. Bei dem dritten, `US-Experte Myron Boor' konnte ich es nicht überprüfen, da der SPIEGEL nicht verrät, wofür Boor Experte ist.

  24. `Multiple Persönlichkeit: Der große Schwindel' 4/96; `Ritueller Mißbrauch: die Phantasien der Therapeuten' 10/96 PSYCHOLOGIE HEUTE

  25. `Vater unser in der Hölle. Ein Tatsachenbericht' erschien 1996 bei Kallmeyer (Pädagogikverlag Ehrhardt Friedrich).

  26. Wer ist dieser Rolf Degen, dachte ich, und dann fiel es mir wieder ein: `Pfusch an der Vergangenheit: Ein Buch enthüllt Mißbrauch mit Wiedergefundenen Erinnerungen hieß sein Artikel in den Potsdamer Neuesten Nachrichten vom 29. 4.1997

  27. Robert Adler, `Crowded Minds: Now we can watch multiple personalities emerge in the brain', New Scientist. 18.12.1999, S. 26-31

  28. Geo, 5/2002. S. 140-166

PET = PositronenEmissionsTomographie. Hiermit lassen sich Aktivitäten in unterschiedlichen Hirnregionen darstellen und messen.

© 11/1997, 12/1998, 10/2000, 2/2001, 5/2002, 1/2003 Ulla Fröhling