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ISSD-D - Aufsätze im ISSD-D-Angebot / Aufsätze: Übersicht
- Dissoziative Identitätsstörung (DIS) - eine Persönlichkeitsstörung?
Bettina Overkamp; Arne Hofmann; Michaela Huber, Gerhard Dammann


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Untersuchungsverfahren

PatientInnen mit einer dissoziativen Identitätsstörung sind häufig, bedingt durch ihre traumatische Vorgeschichte und dem damit verbundenen "Schweigegebot", Meister darin, ihre Zeitverluste, Amnesien oder die Schwere der anderen Symptome vor der Außenwelt zu verheimlichen und möglichst unauffällig zu funktionieren. Nach Kluft (1991)

  • präsentierten sich nur 5 Prozent seiner 210 DIS-PatientInnen selbst diagnostiziert,
  • 15 Prozent zeigten bereits in den Therapieanfängen offene Dissoziationen,
  • 40 Prozent ließen sich aufgrund subtiler Anzeichen diagnostizieren,
  • während es bei weiteren 40 Prozent selbst für erfahrene KlinkerInnen schwer oder überraschend sein konnte, die korrekte Diagnose zu stellen.

Franklin (1990) nennt als subtile diagnostische Hinweisreize Fluktuationen in der Übertragung und den Affekten, Inkonsistenzen in Haltungen, Ansichten, Erinnerungen und Verhaltensweisen, passive Beeinflussungserfahrungen, ein ungewöhnliches Bezugnehmen auf Selbstaspekte und häufige dissoziative Erfahrungen. Kluft selber spricht von einem diagnostischen Fenster, das es zu finden gilt. Es stehen PraktikerInnen dafür verschiedene diagnostische Instrumente zur Verfügung:

Selbstbeurteilungsinstrumente

DES (Dissociative Experience Scale) und FDS(Fragebogen zu dissoziativen Symptomen): Als grundlegendes Screening-Instrument für Dissoziative Symptome haben Bernstein & Putnam (1986) den DES (Dissociative Experience Scale) entwickelt, der in einer autorisierten und ergänzten Übersetzung von Freyberger et al. (1997) auf deutsch als Fragebogen zu dissoziativen Symptomen (FDS) vorliegt (Spitzer et al. 1994). Er besteht aus insgesamt 44 Items (die ursprüngliche Form hatte 28), um auch den körperlichen Symptomen in der Dissoziation gerechtzuwerden. Der FDS umfaßt

  • körperlichen Symptome
  • die Dimensionen Absorption
  • Derealisation/ Depersonalisation
  • und Amnesie.

Die deutschen Gütekriterien entsprechen den US-amerikanischen mit einer Sensitivität von circa 70 Prozent für DIS und einer Validität von circa. 80 Prozent. In klinischen Populationen liegt der Cut-Off-Wert bei 30 (nach Mittelwertsbildung über alle beantworteten Items); bei so hohen Werten empfiehlt sich die anschließende Durchführung eines gründlicheren diagnostischen Interviews (s.u.). Der DES und auch schon der FDS sind in zahlreichen Studien und anderen wissenschaftlichen Arbeiten verwendet worden, unter anderem zur Erfassung des Zusammenhanges zwischen Trauma, Diagnose und Dissoziation.

S.D.Q.-20 (Somatoform Dissociation Questionnaire-20): Mit den somatoformen Auswirkungen der Dissoziation befaßt sich der S.D.Q.-20 (Somatoform Dissociation Questionnaire -20) von Nijenhuis, Van der Hart & Vanderlinden, bzw. dessen Kurzform der S.D.Q.-5 (s. Nijenhuis et al. 1996). Er besteht aus 20 Items und liegt bisher ausschließlich in englischer und holländischer Fassung vor. Die teststatistischen Gütekriterien sind sehr gut erfüllt. Die 20 Items unterscheiden signifikant zwischen PatientInnen mit einer dissoziativen Störung und anderen (klinischen) Kontrollgruppen.

Ebenfalls in den Niederlanden wurde der DIS-Q von Vanderlinden und Vandereycken (1995) entwickelt, der sich mit der Dissoziation bei Eßstörungen beschäftigt. Speziell mit dem Auftreten von Dissoziation bereits während des Traumas befassen sich der "Immediate Reactions and Experience Questionnaire", beziehungsweise der "Peritraumatic Dissociative Experiences Questionnaire", beide von Marmar et al. (1994). Das Vorhandensein einer peritraumatischen Dissoziation gilt als ein prädiktiver Faktor für die Entstehung einer Posttraumatischen Belastungsstörung.

Diagnostische Interviews

Structural Clinical Interview for Dissociative Disorders (SCID-D): Das in Amerika verwendete Standardinstrument zur Diagnose Dissoziativer Störungen ist das Structural Clinical Interview for Dissociative Disorders (SCID-D) von Marlene Steinberg (1993). Der Interviewer befragt systematisch in 272 Items über 45-90 Minuten die DSM-IV-Diagnosekriterien für Amnesie, Depersonalisation, Derealisation, Identitätskonfusion und Identitätsalteration. Vor Durchführung ist ein Rater-Training zu empfehlen.

Dissociative Disorders Interview Schedule (DDIS): Ebenfalls als strukturiertes klinisches Interview ist der Dissociative Disorders Interview Schedule (DDIS) von Colin A. Ross (1989) und Ross et al. (1989a) konzipiert. Er besteht aus 131 Items und bezieht neben DIS-spezifischen und sekundären Symptomen mögliche Komorbiditäten einer dissoziativen Störung ein, indem er systematisch die DSM-IV-Kriterien der Somatisierungsstörung, der Major Depression, der Borderline Persönlichkeitsstörung und natürlich aller dissoziativen Störungen abfragt. Er dauert ebenfalls zwischen 45 und 90 Minuten und hat eine gute Reliabilität und Validität. Der DDIS liegt als Interviewleitfaden zur Diagnose Dissoziativer Störungen auf deutsch vor.

Das Loewenstein Interview: entwickelt von Richard Loewenstein (1991), ist ein halbstrukturiertes Interview, das speziell nach spezifischen DIS-Symptom-Clustern fragt. Dabei handelt es sich um DIS-Prozeßsymptome wie "Switches" oder Erfahrungen passiver Beeinflussung, um Amnesien (auch in Form von Mini-Dissoziationen), um PTSD-Symptome (als Intrusionen), um somatoforme Symptome (interpretierbar als "Körpererinnerungen") und um affektive Symptome wie Depression und selbstverletzende Verhaltensweisen, Suizidversuche. Das Loewenstein-Interview liegt bisher nur in der englischen Originalfassung vor.

Behandlungsrichtlinien

In einer US-landesweiten Studie über die verbreitetste Art der Therapie mit DIS-PatientInnen, an der 305 klinikerInnen teilnahmen, fanden Putnam & Loewenstein (1993) heraus, daß das häufigste Behandlungssetting eine durch hypnotische Verfahren unterstützte zweimal wöchentlich stattfindende ambulante Psychotherapie über knapp vier Jahre ist. Dabei werden teilweise Antidepressiva und Anxiolytika als moderate Unterstützung eingesetzt. Als besonders erfolgreich für die Therapie der Störung hat sich ein eklektischer Therapieansatz erwiesen, der folgende Vorgehensweisen in sich vereinigt (Chu 1997):

  • psychodynamische
  • kognitiv-verhaltenstherapeutische
  • hypnotherapeutische
  • familientherapeutische

Nach neuestem Forschungsstand gibt es keine kausale medikamentöse Behandlung für die dissoziative Identitätsstörung, teilweise können aber Antidepressiva oder kurzfristig Tranquilizer zur Entlastung eingesetzt werden.

In einer Untersuchung über einen Zeitraum von 18 Jahren mit 210 PatientInnen fand Kluft (1984b; 1996) als Prognose für die dissoziative Identitätsstörung, daß die DIS-spezifische Therapie bei 81 Prozent zu einer Integration führte (bei 19 Prozent Therapieversagen oder -abbrüchen), während dies bei einer unspezifischen psychotherapeutische Behandlung nur bei 3 Prozent der PatientInnen der Fall war (und 97 Prozent hatten nach wie vor eine DIS). Bei all denjenigen, die keine Behandlung erhalten hatten, blieb die DIS bestehen.Bisher liegen neben einer Reihe von anderen europäischen Ländern auch für Deutschland erste Erfahrungen über die Behandlung von DIS-PatientInnen vor (Hofmann 1995; Huber 1995a; Jürgens 1995).

Die ausführliche Darstellung der therapeutischen Techniken und Vorgehensweisen würde bei weitem den Rahmen des Beitrags sprengen. Wichtig ist zu wissen, daß die Traumabearbeitung nicht den Schwerpunkt am Anfang der Therapie bildet, da die große Gefahr einer Retraumatisierung der PatientInnen durch unkontrollierte Intrusionsphänomene (Flashbacks) besteht. Im weiteren Verlauf der Therapie ist die Behandlung traumatischer Erfahrungen jedoch ein wesentlicher Bestandteil, von dem in der Regel auch wichtige klinische Fortschritte sowohl symptomatischer als auch struktureller Natur zu erwarten sind.

"We are not treating patients’ traumas - rather, we are treating traumatized patients. The difference here is crucial. Treatment that is excessively focussed on the detection and abreaction of past abuse may have the unintended result of facilitating patients’ identity as victims. Treatment then become all-consuming, endless, and regressive. Treatment that is focussed instead on the patients, rather than on their traumas, may do better job of helping to integrate the trauma into a personal narrative that helps patients understand who they are, why they feel the way they do, and how to go on with their lives" (Chu 1997, S.3).

Van der Hart et al. (1995) nennen als Therapieempfehlungen:

  • das Schaffen sicherer und eindeutiger Rahmenbedingungen / Grenzen,
  • indem die Dauer und die Häufigkeit der wöchentlichen Termine geregelt ist,
  • neben der Therapie der Aufbau eines sozialen Netzwerkes zur Unterstützung in Krisensituationen gefördert,
  • eventuell Hypnose frühzeitig ressourcenfördernd und "Sicherheit schaffend" eingesetzt wird
  • und sich auch der/die TherapeutIn frühzeitig um Unterstützung, Supervision oder Teamarbeit kümmert.

In der Anfangsphase geht es vor allem um die Stabilisierung und die Symptomreduktion. Diese kann erfolgen durch:

  • allgemeine Interventionen zur Ich-Stärkung
  • das Lehren von Problemlösestrategien
  • einer Psychoedukation über die Störung
  • den Umgang mit traumatischen Erinnerungen (gemeint als ein möglichst rasches Unterbrechen der Flashbacks über hypnotherapeutische und imaginative Distanzierungstechniken (Reddemann & Sachsse, 1996)),
  • die systematischen Erforschung des Widerstandes
  • die Modulation von Emotionen
  • den Aufbau einer Kooperation zwischen TherapeutIn und mehreren Persönlichkeitszuständen der PatientIn (auch im Erstellen einer "Landkarte" über das Teilidentitätensystem)

Erst wenn eine tragfähige therapeutische Beziehung aufgebaut ist (was sehr lange dauern kann, da ein wichtiges Symptom der Störung in dem häufig völligen Vertrauensverlust liegt) und das aktuelle Leben relativ krisenfrei bewältigt werden kann, empfiehlt sich die Bearbeitung traumatischer Inhalte. Allgemein hat sich dabei ein langsames und vorsichtiges Herangehen in ganz kleinen Schritten (unter anderem auch als "fractionated abreaction" nach Kluft 1996) bewährt, das letztendlich der Realisierung des Geschehenen dienen soll. Neben hypnotherapeutischen Techniken zur Traumabearbeitung und Distanzierung, steht seit einigen Jahren als Methode auch die Eye Movement Desensitization and Reprocessing (EMDR) zur Verfügung (Shapiro, 1989/ 1995), über deren Einsatz mit dieser schwierigen PatientInnengruppe zunehmend klinische Erfolge berichtet werden (Young 1994; Paulsen 1995; Wilson et al. 1995; Hofmann 1996).

In allen Übersichtsarbeiten zur Dissoziativen Identitätsstörung (Putnam 1989; Ross 1989; Herman 1994; Huber 1995a; Hunter 1995; Kluft 1996) finden sich Hinweise auf ein konkretes schrittweises, therapeutisches Vorgehen; auch wird in Deutschland zunehmend der Bedarf nach spezifischer Weiterbildung für die Arbeit mit traumatisierten Menschen gesehen.

Zusammenfassung

Die Diagnose dissoziative Identitätsstörung erscheint als ein sinnvolles Konzept, das einerseits die Behandlung einer schwierigen PatientInnengruppe ermöglicht, die sonst in Gefahr stünde zu chronifizieren und zu hohen Folgebelastungen sowohl für die PatientInnen selbst als auch für das Gesundheitswesen führen kann (Rivera 1991). Andererseits ermöglicht die Diagnose einer DIS - am besten als eigenes Störungsbild in der Struktur der Gesamtpersönlichkeit verstanden - eine in ihrer klinischen Phänomenologie heterogene Gruppe von PatientInnen aufgrund gemeinsamer ätiologischer (Trauma) und struktureller (Identitätsfragmentierung) Faktoren zu erfassen und ihnen besser gerechtzuwerden.

Literatur