Trauma und Dissoziation • Ein Angebot von S.P.ORG.-Consulting e.V.

INTERNATIONAL SOCIETY
FOR THE STUDY OF DISSOCIATION
Deutsche Sektion e.V.


Hauptseite

S.P.ORG.

Vielfalt e.V.

ISSD-D

Aktuelles

ISSD-D - Aufsätze im ISSD-D-Angebot / Aufsätze: Übersicht
- Dissoziative Identitätsstörung (DIS) - eine Persönlichkeitsstörung?
Bettina Overkamp; Arne Hofmann; Michaela Huber, Gerhard Dammann


Dissoziative Identitätsstörung (DIS) - eine Persönlichkeitsstörung? - Teil 1weiter

Bettina Overkamp; Arne Hofmann; Michaela Huber, Gerhard Dammann

Seit der Aufnahme der Dissoziativen Identitätsstörung in das DSM-III (Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen, APA 1980) (nach Vorliegen von Untersuchungen, die eindeutig die Trennschärfe gegenüber anderen Diagnosen nachwiesen), befassen sich vor allem amerikanische und holländische Forschungsgruppen nun schon seit über 15 Jahren mit der systematischen Erforschung des Bereiches posttraumatischer und dissoziativer Störungen (Braun 1984b). Sie sehen die DIS als eigenständiges Störungsbild und haben mittlerweile wirkungsvolle therapeutische Ansätze entwickelt. In Deutschland wird die DIS im klinischen Kontext bisher noch eher selten diagnostiziert, erst seit 1992 wurden erste Fallbeispiele im deutschsprachigen Raum publiziert (Modestin, 1992; Pfeifer et al., 1994). Bis heute besteht eine teilweise überraschend emotionale Kontroverse in der klinischen Fachwelt darüber, ob es die DIS überhaupt als eigenständiges Störungsbild gibt. So sehen Dulz & Lanzoni (1996) die DIS als eine besondere Ausprägung einer Borderline-Persönlichkeitsstörung, während wieder andere überhaupt die Möglichkeit einer Existenz einer "mehrfachen Persönlichkeit" leugnen, die ihrer Meinung nach nur iatrogen durch ein Artefakte in der TherapeutIn-KlientIn-Beziehung geschaffen wird (Dell, 1988; Merskey, 1992; Dunn et al., 1994 ).

Dieser Beitrag soll einer sachlichen Information über das Thema dienen. Jede Klassifikation beinhaltet auch eine Abstraktion, die als hilfreiches und nützliches Konstrukt Denk- und Wahrnehmungssysteme schafft, die den diagnostischen Blick schärfen und BehandlerInnen effektive Behandlungsmethoden an die Hand geben können. Daher soll hier der aktuelle Stand - unter anderem der europäischen Forschung - zu Dissoziation und der DIS dargestellt sowie diagnostische Hinweise und diagnostische Instrumente vorgestellt werden. Abschließend erfolgt eine kurze Zusammenfassung der therapeutischen Haltungen und Interventionen, die sich bei diesem Störungsbild bisher bewährt haben.

Zum Begriff der Dissoziation

Das Konzept der Dissoziation ist eng verbunden mit dem Namen Pierre Janet, der als Zeitgenosse Freuds sein Lebenswerk der Erforschung dieses Phänomens gewidmet hat (Van der Hart &. Friedman 1989). In seinem Buch "L’Automatisme psychologique" von 1889 erklärt Janet die Entstehung einer Dissoziation dadurch, daß verschiedene Faktoren - und zwar ganz besonders real erlebtes Trauma - die integrative Funktion des Bewußtseins blockieren und sich zu "idées fixes" weiterentwickeln können. Janets Modell der Desintegration und Fragmentierung des Bewußtseins ist in neuerer Zeit als maßgeblich für das Verständnis der Dissoziation wiederentdeckt worden.

"This disturbance leads to the splitting off or doubling (dédoublement), separation and isolation of certain psychological regulating activities. These dissociated systems of activities (states of consciousness) vary in complexity from a simple image, thought or statement and ist attendent feelings or bodily manifestations to the alter personalities of patients with multiple personality disorder (Van der Hart & Friedman 1989, S. 6)... Fixed ideas are thoughts or mental images which take on exaggerated proportions, have a high emotional charge, and, in hysterical patients, become isolated from the habitual personality, or personal consciousness. When dominating consciousness, they serve as the basis of behavior" (Van der Hart & Friedman 1989, S. 8).

Dissoziation kann auch als das Gegenteil von "Assoziation" verstanden werden (Ross, 1989), wobei die Anfänge einer Dissoziation bereits mit einer stärkeren Form der Gedankenabwesenheit liegen (zum Beispiel einer "Autobahntrance"). Dann aber gehen sie in einem qualitativen Sprung in ein System sich im Schweregrad steigernder dissoziativer Störungen über, und dieses erfährt seine stärkste Ausprägung in der komplexen dissoziativen Identitätsstörung.

Die erste Hochphase in der Beschäftigung mit der Dissoziation endete etwa 1920, bevor dieses Phänomen von ungefähr 1980 an mit der Aufnahme des Begriffs der dissoziativen Störungen in das DSM-III wieder vermehrt "entdeckt" wurde. S.O. Hoffmann (1994), der sich bereits seit Anfang der 90er Jahre mit dem Thema der dissoziativen Störungen beschäftigt, erklärt einen Teil des "Vergessens" durch eine fachliche Konkurrenz zwischen Janet und Freud, bzw. dem von letzterem neu eingeführten Begriff der Verdrängung und dem Verständnis der Dissoziation als Abwehrmechanismus. Ein weiterer Grund für "den Niedergang in der Beschäftigung mit der Dissoziation" liegt im Aufkommen der Diagnose Schizophrenie als Bewußtseinsspaltung (Rosenbaum 1980). Darunter wurden fälschlicherweise auch viele dissoziative Symptome subsumiert, da sowohl Schneidersche Symptome ersten Ranges als auch pseudopsychotische (Positiv-) Symptome im Vergleich häufiger bei DIS vorkommen als bei Schizophrenie (Kluft 1987, Ellason & Ross 1995). Einen dritten Erklärungsansatz für das Verschwinden dissoziativer Diagnosen zu Anfang des Jahrhunderts sehen Huber (1995a, b) und Ross (1989) darin, daß bereits Janet - und auch Freud in seiner Veführungstheorie - Dissoziation in engen Zusammenhang mit dem Erleben realer Traumatisierungen vor allem in der Kindheit gestellt haben und daß es in der Gesellschaft damals wie heute ein "Trauma-Tabu" zu geben scheint, mit dem ein in dieser unerwarteten Größenordnung gefundenes Ausmaß an Gewalt gegen Frauen und Kinder verleugnet werden muß. Eine weit verbreitete, vor allem Frauen betreffende, durch Trauma verursachte Störung wie die DIS löst auch unter diesem Aspekt gesehen teilweise recht heftige emotionale (Gegen-)Reaktionen aus.

weiter