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Aufsätze - The Child Sexual Abuse Accomodation Syndrome
Roland Summit
Übersetzung durch Birgitta Rennefeld



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3. "VERSTRICKUNG" (ENTRAPMENT) UND AKKOMODATION

Der Prozeß der hilflosen Viktimisierung führt das Kind dazu, ihre eigene Verantwortung überzubetonen und im Laufe der Zeit sich selbst für ihre Schwäche zu verachten. Das Kind ist mit zwei Realitäten konfrontiert: entweder sie ist schlecht und verdient es, bestraft zu werden und ist es nicht wert, daß man sich um sie kümmert - oder ihr Vater ist zu schlecht, straft sie zu Unrecht und ist nicht fähig, für sie zu sorgen. Das kleine Kind ist weder darauf vorbereitet noch hat es die Erlaubnis, an die zweite Realität zu glauben, und es würde keine Hoffnung auf Akzeptanz oder überleben geben, wenn sie wahr wäre. Ihre unvermeidliche Wahl besteht darin, die mehr aktive Rolle der Verantwortung anzunehmen und darauf zu hoffen, einen Weg zu finden, um gut und der Sorge wert zu werden. Dieses "Sich-selbst-zum-Sündenbock-machen" ist beinahe universell bei Opfern jeglicher Form elterlicher Mißhandlungen anzutreffen. Es bildet das Fundament zu Selbsthaß und, was LEONARD SHENGOLD als einen vertikalen Riß in der Überprüfung der Realität beschreibt: "Wenn der Elternteil, der mißhandelt und als schlecht erfahren wird, derselbe ist, an den sich das Kind wenden muß, um Trost in ihrem Elend zu erhalten, das dieser verursacht hat, dann muß das Kind in ihrer verzweifelten Not ihn in einem Akt der Selbsttäuschung als gut registrieren. Nur die geistigen Vorstellung des guten Elternteils kann dem Kind dabei helfen, mit der erschreckend heftigen Furcht und Wut umzugehen, die die Folge der peinigenden Erfahrungen sind. Die Alternative - die Aufrechterhaltung der überwältigenden Stimulation und des schlechten Elternbildes - bedeutet die Zerstörung der Identität, der Empfindung des eigenen Selbst. So muß das Schlechte als das Gute vermarktet werden. Dies hat eine 'mindsplitting' oder 'mind-fragmenting' Wirkung.

Der sexuell mißhandelnde Elternteil stellt ein anschauliches Beispiel und eine Anleitung dar, was es heißt, gut zu sein. Das Kind muß verfügbar sein, ohne sich über die sexuellen Forderungen zu beschweren. Es existiert ein explizites oder implizites Versprechen einer Belohnung: Wenn sie gut ist und das Geheimnis für sich behält, kann sie ihre Geschwister vor einer sexuellen Beteiligung schützen ("Es ist gut, daß ich darauf zählen kann, daß du mich liebst; andernfalls wäre ich gezwungen, mich an deine kleine Schwester zu wenden."), ihre Mutter vor einem Zusammenbruch bewahren ("Wenn deine Mutter es jemals herausfindet, würde sie sich umbringen."), den Vater vor Versuchungen schützen ("Wenn ich nicht auf dich zählen kann, dann muß ich in Lokalen rumhängen und mich nach anderen Frauen umsehen.") und was am wesentlichsten ist, die Sicherheit des Heimes erhalten ("Wenn du es erzählst, können sie mich ins Gefängnis schicken und euch Kinder stecken sie ins Waisenhaus.").

In der klassischen Rollenumkehr des Kindesmißbrauchs wird dem Kind die Macht gegeben, die Familie zu zerstören und die Verantwortung für ihren Zusammenhalt. Das Kind NICHT DER ELTERNTEIL, muß den Altruismus und die Selbstbeherrschung aufbringen, um das Überleben der anderen zu sichern. Das Kind, kurz gefaßt, muß heimlich viele der Rollenfunktionen auf sich nehmen, die normalerweise der Mutter zugeschrieben werden.

Es existiert eine unvermeidliche Zersplitterung der konventionellen Moralwerte: Eine Lüge aufrechtzuerhalten, um das Geheimnis zu bewahren, ist ein elementarer Wert, während es die größte Sünde wäre, die Wahrheit zu sagen. Ein Kind, dass so viktimisiert worden ist, wird scheinbar ohne klagen sexuelle Kontakte akzeptieren oder suchen. Wie Ferenczi vor annähernd 50 Jahren entdeckt hat: "Das mißbrauchte Kind verwandelt sich in einen mechanisch gehorchenden Roboter."

Eine wirkungsvolle Akkomodation entkräftigt selbstverständlich jeden zukünftigen Anspruch auf Glaubwürdigkeit als Opfer. Für Erwachsene ist es offensichtlich, daß das Kind, wenn es sexuell involviert gewesen wäre, wie es behauptet, eine willige und wahrscheinlich auch verführerische Partnerin gewesen sein muß. Anderenfalls hätte sie sofort davon berichtet. Entweder lügt sie bei ihrer etwaigen Anklage oder sie hat gelogen und sich mit ihrem "lover" bei einer früheren Vertuschung verschworen. In keinem Fall ist sie vor einem Strafgericht glaubwürdig. Noch einmal, nur ein Gutachten durch Fachleute kann das Verhalten des Kindes in eine sinnvolle Konzeption Übersetzen, die andere Erwachsene akzeptieren können.

Indem das Kind ihre Realität strukturieren muß, um den Elternteil zu beschützen, findet sie auch die Mittel, um sich Nischen zum Überleben zu schaffen, in denen etwas wie Hoffnung auf Wertvolles Zuflucht finden kann. Sie wird sich vielleicht imaginären Gefährten zuwenden, um sich zu beruhigen. Sie kann "verschiedene Persönlichkeiten" (multiple personalities) entwickeln, davon einer Hilflosigkeit und Leiden zuweisen, Schlechtigkeit und Wut einer zweiten, sexuelle Macht einer anderen, Liebe und Mitleid der nächsten usw. Sie mag veränderte Bewußtseinslagen entdecken, um die Qualen abzustellen oder sie von ihrem Körper abzutrennen, als wenn sie aus einer Distanz auf das Kind schaut, das die Mißhandlung erleidet. Der gleiche Mechanismus, der dem Kind das psychische Überleben ermöglicht, wird zu einem Handikap für eine effektvolle seelische Integration als Erwachsene. In jeder Phase ihrer Akkomodation verdienen Opfer ein einfühlsames, professionelles Verständnis und die Versicherung, daß ihre Reaktionen begreiflich sind, psychophysiologisch reversibel, statt Indikatoren für eine unzureichende Wirklichkeitsüberprüfung und verbleibende Psychopathologie.

Wenn das Kind nicht in der Lage ist, ökonomisch mit ihren psychischen Kräften umzugehen, um die andauernden Gewalttätigkeiten auszugleichen, werden Unduldsamkeit gegen die Ohnmacht und anwachsende Wutgefühle nach einer wirksamen Ausdrucksform suchen. Für das Mädchen heißt dies oftmals Selbstzerstörung und verstärkter Haß gegen sich selbst; Selbstverstümmelung, suizidales Verhalten, promiskuöse sexuelle Handlungen und wiederholten weglaufen sind typisch (Weiterführend hierzu: G. E. WYATT; G. J. POWELL: Lasting Effects of Child Sexual Abuse). Vielleicht lernt sie, den Vater in Bezug auf Privilegien und materielle Belohnungen auszunutzen, wobei sie ihre selbststrafenden Vorstellung, eine Hure in diesem Prozeß zu sein, bekräftigt. Sie kann gegen beide Elternteile ankämpfen, aber ihr größter Zorn konzentriert sich wahrscheinlich auf die Mutter, die sie dafür beschuldigt, den Vater zu ihr ins Bett getrieben zu haben. Sie nimmt an, daß ihre Mutter von der sexuellen Mißhandlung wissen muß und entweder zu gleichgültig oder zu kraftlos ist, um zu intervenieren. Das Scheitern der Mutter-Tochter-Bindung verstärkt sie als junge Frau in dem Mißtrauen gegenüber ihrem Frau-Sein und macht sie um so mehr abhängig von der kläglichen Hoffnung, Annahme und Schutz von einem mißhandelnden Mann zu erlangen.

Das männliche Opfer sexueller Mißhandlungen wird wahrscheinlich seinen Zorn in ein aggressives und antisoziales Verhalten nach außen kehren. Er ist sogar wesentlich intoleranter gegenüber seiner Ohnmacht als das weibliche Opfer und rationalisiert wahrscheinlich mehr, daß er die Beziehung zu seinem eigenen Vorteil ausnutzt. Er mag so beharrlich an einer idealisierten Beziehung mit Erwachsenen festhalten, daß er auf einer präadoleszenten Stufe der Sexualobjektwahl fixiert bleibt, so als wenn er versuchen würde, mit einer nicht endenden Reihe von kleinen Jungen die Liebe am Leben zu erhalten (Zur Problematik des sexuellen Mißbrauchs an Jungen, dessen Auswirkungen und Folgen s. EUGENE PORTER: Treating the Young Male Victim of Sexual Assault.).

Verschiedene Mischformen der Depression, gewalttätiger Angstabwehr, "Mysogyny ("Frauenfeindlichkeit, Frauenhaß") (noch mal: Die Mutter wird als Nicht-Sorgende und -Beschützende angesehen.) und Vergewaltigung scheinen Erbteil des Zorns zu sein, das dem sexuelle mißhandelten Jungen hinterlassen wurde (Siehe hierzu bes. MIKE LEW: Victims No Longer; Men Recovering From Incest and Other Sexual Child Abuse.).

"Substance abuse" ist ein einladender Fluchtweg für Opfer beiderlei Geschlechts. Wie Barbara Myers erinnert: "Unter Drogen konnte ich alles sein, was ich wollte. Ich konnte mir meine eigene Wirklichkeit ausmalen. Ich konnte hübsch sein, eine gute Familie haben, einen netten Vater, eine starke Mutter und glücklich sein... Alkohol hatte die gegenteilige Wirkung von Drogen... Er brachte mich zu meinem Elend zurück; er erlaubte mir, meine Verletzung und meinen Zorn zu erfahren."

All diese Akkomodationsmechanismen - das häusliche Martyrium, Spaltung der Realität, verändertes Bewußtsein, hysterische Phänomene, Delinquenz, Soziopathie, Projektion von Zorn, sogar Selbstverstümmelung - sind Teile der Überlebensfähigkeit des Kindes (Zur Diskussion über die Folgewirkungen sexueller Mißhandlungen s. A. BROWNE; D. FINKELHOR: Impact of Child Sexual Abuse: A Review of the Research.). Sie können nur aufgegeben werden, wenn es dem Kind ermöglicht wird zu vertrauen, in einer sicheren Umgebung, die voll ist von beständiger, nicht ungewisser Akzeptanz und Zuwendung. Unterdessen wird jeder, der therapeutisch mit dem Kind (oder dem erwachsenen, noch immer erschütterten Opfer) arbeitet (Siehe zu diesem Thema auch L. BERLINER; J. R. WHEELER: Treating the Effects of Sexual Abuse on Children.), getestet und provoziert werden, um den Beweis zu liefern, daß Vertrauen unmöglich ist, und die einzige zuverlässige Realität negative Erwartungen und Selbsthaß sind. Es ist allzu leicht für angebliche TherapeutInnen, den Eltern und der ganzen erwachsenen Gesellschaft in der Zurückweisung eines solchen Kindes zuzustimmen, indem sie auf die Folgen der Mißhandlung schauen. Damit gehen sie davon aus, daß ein solch unmöglicher Balg die Bestrafung erhalten hat - wie auch immer sie gewesen ist -, die sie / er herbeigeführt und verdient hat; falls nicht in der Tat das ganze Problem eine hysterische und rachsüchtige Phantasie ist.

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