Trauma und Dissoziation

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ISSD-D

ISSD-D - Definitionen
- DSM - IV


300.12 (F44.0) Dissoziative Amnesie
(vormals Psychogene Amnesie)

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Diagnostische Merkmale

Das Hauptmerkmal der Dissoziativen Amnesie ist die Unfähigkeit, sich an wichtige persönliche Informationen zu erinnern, die zumeist traumatischer oder belastender Natur sind; diese ist zu umfassend, um durch gewöhnliche Vergeßlichkeit erklärt zu werden (Kriterium A).

Die Störung umfaßt eine reversible Beeinträchtigung des Gedächtnisses, bei der Erinnerungen an persönliche Erfahrungen nicht in eine verbale Form gebracht werden können (oder, wenn dies teilweise möglich ist, können sie nicht vollständig im Bewußtsein festgehalten werden). Die Störung tritt nicht ausschließlich im Verlauf einer Dissoziativen Identitätsstörung, Dissoziativen Fugue, Posttraumatischen Belastungsstörung, Akuten Belastungsstörung oder Somatisierungsstörung auf und geht nicht zurück auf die direkte körperliche Wirkung einer Substanz oder eines neurologischen oder anderen medizinischen Krankheitsfaktors (Kriterium B).

Die Symptome müssen in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen verursachen (Kriterium C).

Die Dissoziative Amnesie äußert sich zumeist als eine rückblickend berichtete Lücke oder eine Anzahl von Lücken in der Erinnerung an Aspekte der persönlichen Lebensgeschichte. Diese Lücken stehen zumeist in Verbindung mit traumatischen oder extrem belastenden Ereignissen. Manche Personen können eine Amnesie für Episoden von Selbstverletzung, gewalttätigen Ausbrüchen oder für Suizidversuche entwickeln. Daß sich die Dissoziative Amnesie als eine floride Episode mit plötzlichem Beginn äußert, ist weniger häufig. Diese akute Form gibt es wahrscheinlicher in Kriegszeiten oder als Antwort auf eine Naturkatastrophe.

Verschiedene Formen von Gedächtnisstörungen werden bei der dissoziativen Amnesie beschrieben. Bei der Lokalisierten Amnesie kann die Person sich nicht mehr an Ereignisse während eines umschriebenen Zeitabschnittes erinnern, gewöhnlich an die ersten Stunden nach einem höchst belastenden Ereignis (z. B. kann es sein, daß der unverletzt Überlebende eines Autounfalls, bei dem ein Familienmitglied getötet wurde, nicht in der Lage ist, sich an irgend etwas zu erinnern, was vom Zeitpunkt des Unfalls bis zwei Tage danach geschah). Bei der selektiven Amnesie kann sich die Person an einige, aber nicht an alle Ereignisse während eines umschriebenen Zeitabschnittes erinnern (z.B. kann ein Kriegsveteran sich nur an einige Teile einer Reihe gewalttätiger Gefechtsereignisse erinnern). Drei andere Formen der Amnesie - generalisiert, kontinuierlich und systematisiert - sind eher selten. Bei der generalisierten Amnesie umfaßt die Unfähigkeit, sich zu erinnern, das gesamte Leben der Person. Betroffene mit dieser seltenen Störung werden gewöhnlich der Polizei, Notfallambulanzen oder dem Konsiliardienst von städtischen Krankenhäusern vorgestellt. Die kontinuierliche Amnesie ist definiert durch die Unfähigkeit, sich an Ereignisse von einem bestimmten Zeitpunkt an bis in die Gegenwart hinein zu erinnern. Bei der systematisierten Amnesie kommt es zu einem Verlust des Gedächtnisses für bestimmte Kategorien von Informationen, wie beispielsweise alle Erinnerungen an die eigene Familie oder an eine bestimmte Person. Betroffene, welche die drei letztgenannten Formen der Amnesie aufweisen, werden letzten Endes häufig doch die Diagnose einer komplexeren Form von Dissoziativen Störungen erhalten (z. B. eine Dissoziative Identitätsstörung).

Zugehörige Merkmale und Störungen

Zugehörige Beschreibungsmerkmale und psychische Störungen. Einige Personen mit Dissoziativer Amnesie berichten von depressiven Symptomen, Depersonalisation, Trancezuständen, Analgesie und spontaner Altersregression. Es kann wie beim Ganser-Syndrom zu einer nur annähernd richtigen Beantwortung von Fragen kommen (z.B. 2 plus 2 ist 5) Andere Probleme im Zusammenhang mit dieser Störung können sexuelle Funktionsstörungen sein, Beeinträchtigungen im Beruf oder in zwischenmenschlichen Beziehungen, Selbstverletzungen, aggressive Impulse sowie Suizidimpulse und -handlungen. Personen mit einer Dissoziativen Amnesie können auch Symptome aufweisen, die die Kriterien für eine Konversionsstörung, Affektive Störung oder Persönlichkeitsstörung erfüllen.

Zugehörige Laborbefunde. Personen mit einer Dissoziativen Amnesie zeigen in standardisierten Tests häufig eine hohe Hypnotisierbarkeit.

Besondere Altersmerkmale

Die Dissoziative Amnesie ist besonders schwer bei Kindern zu beurteilen, da sie sich mit Unaufmerksamkeit, Angst, oppositionellem Verhalten, Lernstörungen, psychotischen Störungen und einer entwicklungsbedingten, angemessenen Kindheitsamnesie (d.h. die schwächer werdende Erinnerung an Ereignisse, die vor dem 5. Lebensjahr stattfanden) vermischen kann. Es können Reihenuntersuchungen oder Bewertungen durch mehrere verschiedene Untersucher (z.B. Lehrer, Therapeuten, Sozialarbeiter) nötig sein, um die exakte Diagnose einer Dissoziativen Amnesie bei Kindern zu stellen.

Prävalenz

In den letzten Jahren gab es in den Vereinigten Staaten eine Zunahme von Berichten über Fälle von Dissoziativer Amnesie, die das Vergessen frühkindlicher Traumata beinhaltet. Diese Zunahme führte zu sehr unterschiedlichen Interpretationen. Einige glauben, daß die größere Beachtung der Diagnose unter Klinikern dazu führte, daß mehr Fälle identifiziert wurden, die vorher ohne Diagnose blieben. Andere nehmen an, daß das Syndrom bei Personen mit hoher Suggestibilität überdiagnostiziert wird.

Verlauf

Die Dissoziative Amnesie kann in jeder Altersgruppe vorkommen, von kleinen Kindern bis zu Erwachsenen. Die hauptsächliche Symptomatik ist bei den meisten Personen eine rückblickend berichtete Lücke in der Erinnerung. Die angegebene Dauer des Ereignisses, für das die Amnesie besteht, kann von Minuten bis zu Jahren reichen. Es kann sowohl eine einzige Episode von Amnesie vorkommen als auch zwei oder mehr Episoden. Personen, die bereits eine Episode einer Dissoziativen Amnesie erlebten, können prädisponiert sein, Amnesie auch für spätere traumatische Umstände zu entwickeln. Eine akute Amnesie kann spontan abklingen, wenn die Person von den traumatischen Umständen entfernt wird, mit denen die Amnesie verknüpft war (z.B. kann ein Soldat mit einer lokalisierten Amnesie spontan die Erinnerung wiedergewinnen, wenn er vom Kriegsfeld entfernt wird, wo er mehrere Tage intensive Kampferfahrungen machen mußte). Einige Personen mit einer chronischen Amnesie können dissoziierte Erinnerungen auch schrittweise wiedergewinnen. Andere wiederum entwickeln eine chronische Form der Amnesie.

Differentialdiagnose

Die Dissoziative Amnesie ist von einer Amnestischen Störung Aufgrund eines Medizinischen Krankheitsfaktors zu unterscheiden, bei der die Amnesie als direkte körperliche Folge eines spezifischen neurologischen oder anderen medizinischen Krankheitsfaktors angesehen wird (z. B. ein Schädeltrauma oder Epilepsie) (siehe S.202). Diese Schlußfolgerung erfolgt aufgrund von Vorgeschichte, Laboruntersuchungen oder der körperlichen Untersuchung. Bei der Amnestischen Störung Aufgrund einer Hirnverletzung ist die Erinnerungsstörung, obwohl umschrieben, häufig retrograd und umfaßt einen Zeitabschnitt vor dem Trauma. Es gibt gewöhnlich ein eindeutiges körperliches Trauma, eine Periode von Bewußtlosigkeit oder den klinischen Nachweis einer Gehirnverletzung. Im Gegensatz dazu ist bei der Dissoziativen Amnesie die Erinnerungsstörung fast immer anterograd (z. B. ist der Gedächtnisverlust auf den Zeitabschnitt nach dem Trauma beschränkt). Die seltenen Fälle von Dissoziativer Amnesie mit einer retrograden Amnesie können durch den diagnostischen Einsatz von Hypnose unterschieden werden; hierbei spricht die sofortige Wiederherstellung des verlorenen Gedächtnisses für eine dissoziative Grundlage der Störung. Bei Anfallsleiden setzt die Gedächtnisstörung plötzlich ein, es kann zu motorischen Auffälligkeiten kommen, und wiederholte EEGs zeigen typische Abweichungen. Beim Delir und bei der Demenz ist der Gedächtnisverlust bezüglich persönlicher Informationen eingebettet in ein weit umfassenderes Muster kognitiver, sprachlicher, affektiver, aufmerksamkeitsbezogener, wahrnehmungs- und verhaltensbezogener Störungen. Im Gegensatz dazu bezieht sich bei der Dissoziativen Amnesie der Gedächtnisverlust primär auf autobiographische Informationen, die kognitiven Fähigkeiten sind im allgemeinen erhalten. Die Amnesie im Zusammenhang mit einem medizinischen Krankheitsfaktor ist in der Regel nicht reversibel.

Gedächtnisverlust in Verbindung mit der Verwendung von Drogen oder Medikamenten muß ebenfalls von der Dissoziativen Amnesie unterschieden werden. Die Persistierende Substanzinduzierte Amnestische Störung sollte dann diagnostiziert werden, wenn ein andauernder Gedächtnisverlust besteht, der im Zusammenhang mit der direkten körperlichen Wirkung einer Substanz steht (d.h. eine Droge oder ein Medikament) (siehe S. 2o4). Während bei der Dissoziativen Amnesie die Fähigkeit zum Behalten neuer Gedächtnisinhalte erhalten bleibt, ist bei der Persistierenden Substanzinduzierten Amnestischen Störung das Kurzzeitgedächtnis gestört (z. B. können Ereignisse nur unmittelbar nach ihrem Auftreten erinnert werden, nach einigen Minuten nicht mehr).
Gedächtnisverlust in Verbindung mit einer Substanzintoxikation (d.h. ,,blackouts") kann von der Dissoziativen Amnesie unterschieden werden durch den Zusammenhang zwischen dem Gedächtnisverlust und dem massiven Substanzgebrauch sowie der Tatsache, daß die Amnesie gewöhnlich nicht reversibel ist.

Das dissoziative Symptom der Amnesie ist ein charakteristisches Merkmal sowohl der Dissoziativen Fugue als auch der Dissoziativen Identitätsstörung. Sollte die Dissoziative Amnesie daher ausschließlich im Verlauf einer der beiden genannten Störungen auftreten, wird die eigenständige Diagnose der Dissoziativen Amnesie nicht gestellt. Da Depersonalisation ein zugehöriges Merkmal der Dissoziativen Amnesie ist, wird keine eigene Diagnose einer Depersonalisationsstörung gestellt, falls die Depersonalisation ausschließlich im Verlauf der Dissoziativen Amnesie auftritt.

Bei der Posttraumatischen Belastungsstörung und der Akuten Belastungsstörung kann es zur Amnesie bezüglich des traumatischen Ereignisses kommen. Gleichzeitig kommen dissoziative Symptome wie Amnesie auch in den Kriterien für die Somatisierungsstörung vor. Die Dissoziative Amnesie wird nicht diagnostiziert, wenn sie ausschließlich im Verlauf einer dieser Störungen auftritt.

Es gibt keine Untersuchungen oder bestimmte Vorgehensweisen um die Dissoziative Amnesie eindeutig von der Simulation zu unterscheiden. Personen mit einer Dissoziativen Amnesie erreichen jedoch gewöhnlich hohe Werte bei standardisierten Messungen bezüglich Hypnotisierbarkeit und dissoziativer Fähigkeiten. Simulierte Amnesie findet man häufiger bei Personen die akute floride Symptome in einem Kontext zeigen, in dem ein potentieller sekundärer Gewinn offensichtlich wird - z. B. finanzielle oder rechtliche Probleme oder der Wunsch den Kriegsdienst zu vermeiden Jedoch kann auch echte Amnesie mit solchen Belastungsfaktoren verknüpft sein

Die Beurteilung der Genauigkeit von wiedergewonnener Erinnerung ist mit Vorsicht vorzunehmen, da die Informanten häufig hoch suggestibel sind. Es gab eine beträchtliche Kontroverse bezüglich Amnesie in Verbindung mit körperlichem oder sexuellem Mißbrauch vor allem dann wenn dieser in der frühen Kindheit stattgefunden hat Einige Untersucher nehmen an, daß solche Ereignisse bisher unterschätzt wurden, vor allem da die Opfer oft Kinder sind und die Täter dazu neigen, ihre Taten zu leugnen oder zu vertuschen. Auf der anderen Seite gibt es Untersucher, die eine Überschätzung befürchten vor allem aufgrund der geringen Reliabilität von Kindheitserinnerungen. Es gibt derzeit noch keine sichere Methode, um den Wahrheitsgehalt solcher Erinnerungen zu überprüfen, wenn es keine bestätigenden Beweise gibt.

Die Dissoziative Amnesie muß ebenfalls unterschieden werden von einem Gedächtnisverlust im Rahmen eines Altersbedingten Kognitiven Abbaus und von nicht pathologischen Formen der Amnesie, wie alltäglicher Gedächtnisverlust, posthypnotische Amnesie, infantile und Kindheitsamnesie und Amnesie für Schlafen und Träumen. Die Dissoziative Amnesie kann von normalen Erinnerungslücken durch die unfreiwillige Unfähigkeit zur Erinnerung unterschieden werden sowie durch das Vorhandensein von bedeutsamem Leiden oder Beeinträchtigungen.

Diagnostische Kriterien für 300.12 (F44.0) Dissoziative Amnesie

  1. Das vorherrschende Störungsbild zeigt sich in einer oder mehreren Episoden, in denen eine Unfähigkeit besteht, sich an wichtige persönliche Informationen zu erinnern, die zumeist traumatischer oder belastender Natur sind; diese ist zu umfassend, um durch gewöhnliche Vergeßlichkeit erklärt zu werden.
  2. Die Störung tritt nicht ausschließlich im Verlauf einer Dissoziativen Identitätsstörung, Dissoziativen Fugue, Posttraumatischen Belastungsstörung, Akuten Belastungsstörung oder Somatisierungsstörung auf und geht nicht zurück auf die direkte körperliche Wirkung einer Substanz (z. B. Droge, Medikament) oder eines neurologischen oder anderen medizinischen Krankheitsfaktors (z. B. eine Amnestische Störung Aufgrund eines Schädel-Hirn-Traumas).
  3. Die Symptome verursachen in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.

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