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300.13 (F44.1) Dissoziative Fugue
(vormals Psychogene Fugue)

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Diagnostische Merkmale

Das Hauptmerkmal der Dissoziative Fugue ist ein plötzliches, unerwartetes Weggehen von zu Hause oder vom gewohnten Arbeitsplatz, verbunden mit der Unfähigkeit, sich an seine gesamte oder an Teile der Vergangenheit zu erinnern (Kriterium A).

Dies ist mit Verwirrung über die eigene Identität oder mit der Annahme einer neuen Identität verbunden (Kriterium B).

Die Störung tritt nicht ausschließlich im Verlauf einer Dissoziativen Identitätsstörung auf und geht nicht auf die direkte körperliche Wirkung einer Substanz oder eines medizinischen Krankheitsfaktors zurück (Kriterium C).

Die Symptome müssen in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen verursachen (Kriterium D).

Das Weggehen kann von kurzen Ausflügen von nicht zu langer zeitlicher Dauer (d.h. Stunden oder Tage) reichen, bis zu weitreichenden, in der Regel unauffälligen Wanderungen über eine lange Zeitspanne (z. B. Wochen oder Monate), wobei einige Personen zahlreiche nationale Grenzen überschreiten und Tausende von Meilen reisen. Während einer Fugue erscheinen die Personen in der Regel psychopathologisch unauffällig und erregen keine Aufmerksamkeit. Klinisch auffällig werden sie dann gewöhnlich ab einem gewissen Punkt aufgrund der Amnesie für frühere Ereignisse oder eines Mangels an Bewußtheit für die eigene Identität. Kehrt die Person zu dem Zustand vor der Fugue zurück, so kann es zu einem Gedächtnisverlust für die Ereignisse während der Fugue kommen.

Meist kommt es bei der Fugue nicht zur Herausbildung einer neuen Identität. Wird jedoch eine solche angenommen, so ist sie gewöhnlich durch geselligere und weniger zurückhaltende Züge als die frühere Identität gekennzeichnet. Die Person kann einen neuen Namen annehmen, eine neue Wohnung beziehen und sich in komplexen sozialen Aktivitäten engagieren und gut integriert sein, so daß das Vorhandensein einer psychischen Störung nicht zu vermuten ist.

Zugehörige Merkmale und Störungen

Zugehörige Beschreibungsmerkmale und psychische Störungen. Nach der Rückkehr zu dem Zustand vor der Fugue kann eine Amnesie für traumatische Erlebnisse in der Vergangenheit der Person beobachtet werden (z. B. nach Beendigung einer langen Fugue weist ein Soldat eine Amnesie für seit Jahren zurückliegende Kriegserlebnisse auf, bei denen sein bester Freund getötet wurde). Es kann zu Depression, Dysphorie, Trauer, Scham, Schuldgefühlen, psychischer Belastung, Konflikten sowie suizidalen und aggressiven Impulsen kommen. Die Person kann wie beim Ganser-Syndrom annäherungsweise richtige Antworten auf Fragen geben (z.B. 2 plus 2 ergibt 5). Ausmaß und Dauer der Fugue beeinflussen das Ausmaß weiterer Probleme, wie Verlust des Arbeitsplatzes oder schwerwiegende Auseinandersetzungen im persönlichen oder familiären Bereich. Personen mit einer Dissoziativen Fugue können eine Affektive Störung, eine Posttraumatische Belastungsstörung oder eine Störung im Zusammenhang mit Psychotropen Substanzen aufweisen.

Besondere kulturelle Merkmale

Personen mit verschiedenen kulturell definierten "Lauf"-Syndromen (z. B. pibloktoq bei den Ureinwohnern des nördlichen Polarkreises, grisi siknis bei den Miskito in Honduras und Nicaragua, "Wahnsinns"-Hexerei der Navajo und einige Formen von amok in Westpazifischen Kulturen) können auch Symptome aufweisen, die die diagnostischen Kriterien der Dissoziativen Fugue erfüllen. Diese Zustände sind charakterisiert durch einen plötzlichen Beginn mit einem hohen Aktivitätsniveau, einen tranceähnlichen Zustand, potentiell gefährliches Verhalten in Form von rennen oder fliehen, nachfolgende Erschöpfung, Schlaf und eine Amnesie für diese Episode (s. a. Dissoziative Trancestörung in Anhang B, S.816).

Prävalenz

Es wird von einer Prävalenzrate von 0,2 % für die Dissoziative Fugue in der Allgemeinbevölkerung ausgegangen. Die Prävalenz kann im Zusammenhang mit besonders belastenden Ereignissen wie Kriegszeiten oder Naturkatastrophen ansteigen.

Verlauf

Der Beginn der Dissoziativen Fugue steht in der Regel im Zusammenhang mit besonders traumatischen, belastenden oder überwältigenden Lebensereignissen. Die meisten Fälle werden bei Erwachsenen beschrieben. Am häufigsten wird von einzelnen Episoden berichtet, die Stunden bis Monate andauern. Die Besserung verläuft gewöhnlich sehr schnell, in manchen Fällen kann jedoch eine anhaltende Dissoziative Amnesie bestehen bleiben.

Differentialdiagnose

Die Dissoziative Fugue muß von Symptomen unterschieden werden, die als direkte körperliche Folgeerscheinung eines bestimmten medizinischen Krankheitsfaktors zu sehen sind (z. B. eine Kopfverletzung) (siehe S.210). Diese Beurteilung erfolgt aufgrund der Anamnese, Laboruntersuchungen oder der körperlichen Untersuchung. Bei Personen mit komplex-partiellen Anfällen sind ebenfalls Wanderungen und nur teilweise zielgerichtetes Verhalten während der Anfälle und des postiktalen Zustands zu beobachten, für die eine nachfolgende Amnesie besteht. Eine epileptische Fugue ist jedoch gewöhnlich durch eine Aura, motorische Auffälligkeiten, stereotypes Verhalten, Wahrnehmungsveränderungen, einen postiktalen Zustand oder Abweichungen im EEG zu erkennen. Dissoziative Symptome als direkte Folge der körperlichen Wirkung eines medizinischen Krankheitsfaktors sollten als Nicht Näher Bezeichnete Psychische Störung Aufgrund eines Medizinischen Krankheitsfaktors diagnostiziert werden. Die Dissoziative Fugue muß ebenfalls von Symptomen, die durch die direkte körperliche Wirkung einer Substanz verursacht sind, unterschieden werden (siehe S.239).

Wenn die Symptome der Fugue ausschließlich im Verlauf einer Dissoziativen Identitätsstörung auftreten, sollte die Dissoziative Fugue nicht als eigenständige Diagnose vergeben werden. Die Dissoziative Amnesie und die Depersonalisationsstörung werden ebenfalls nicht diagnostiziert, wenn die Amnesie oder Depersonalisationssymptome nur im Verlauf der Dissoziativen Fugue auftreten. Umherwandern und zielgerichtetes Reisen im Rahmen einer Manischen Episode muß ebenfalls von der Dissoziativen Fugue unterschieden werden. Wie bei dieser können Personen während einer Manischen Episode über eine Amnesie für einige Lebensabschnitte berichten, vor allem in Hinblick auf das Verhalten während enthymer oder depressiver Zustände. Während einer Manischen Episode ist das Reisen mit Größenideen und anderen manischen Symptomen verbunden, und die Personen erregen durch ihr unangemessenes Verhalten häufig Aufmerksamkeit. Es kommt auch nicht zur Annahme einer wechselnden Identität.

Auch bei der Schizophrenie kann es zu umherziehendem Verhalten kommen. Bei Personen mit dieser Störung kann es aufgrund der desorganisierten Sprache schwierig sein, Erinnerungen an Ereignisse während der Perioden der Wanderschaft zu beurteilen. Bei der Dissoziativen Fugue kommt es jedoch nicht zu den psychopathologischen Auffälligkeiten wie bei der Schizophrenie (z.B. Wahn, Negativsymptomatik).

Personen mit einer Dissoziativen Fugue erreichen gewöhnlich hohe Werte in standardisierten Meßverfahren für Hypnotisierbarkeit und dissoziative Fähigkeiten. Es gibt jedoch keine Tests oder andere Verfahren, die mit Sicherheit wirkliche dissoziative Symptome von simulierten unterscheiden. Simulation von Zuständen der Fugue kann bei Personen auftreten, die Situationen entgehen wollen, die mit rechtlichen, finanziellen oder persönlichen Schwierigkeiten verbunden sind, genauso wie bei Soldaten, die Kampfhandlungen oder unangenehme militärische Pflichten vermeiden wollen (obwohl mit solchen Belastungen auch eine echte Dissoziative Fugue verbunden sein kann). Die Simulation dissoziativer Symptome kann auch während einer Befragung unter Hypnose oder unter Barbituraten aufrechterhalten werden. Besonders im forensischen Zusammenhang sollte der Untersucher immer sorgfältig die Diagnose einer Simulation mitbeachten, wenn eine Fugue zu beurteilen ist. Kriminelles Verhalten, das bizarr erscheint und wenig aktuellen Gewinn bringt, kann mit einer wirklichen dissoziativen Störung zusammenpassen.

Diagnostische Kriterien für 300.13 (F44.1) Dissoziative Fugue

  1. Das vorherrschende Störungsbild ist ein plötzliches, unerwartetes Weggehen von zu Hause oder vom gewohnten Arbeitsplatz, verbunden mit der Unfähigkeit, sich an seine Vergangenheit zu erinnern.
  2. Verwirrung über die eigene Identität oder die Annahme einer neuen Identität (teilweise oder vollständig).
  3. Die Störung tritt nicht ausschließlich im Verlauf einer Dissoziativen Identitätsstörung auf und geht nicht auf die direkte körperliche Wirkung einer Substanz (z. B. Droge, Medikament) oder eines medizinischen Krankheitsfaktors zurück (z. B. Temporallappen-Epilepsie).
  4. Die Symptome verursachen in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.

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